Silvia Pax optima rerum


Free Account, Absurdistan

Ich liebe dich, mein Sohn.

Nach 21 Jahren Ehe bat mich meine Frau, eine andere Frau zum Essen einzuladen. Sie sagte: Ich liebe dich, aber ich weiß, dass eine andere Frau dich auch liebt und gerne etwas Zeit mit dir verbringen würde.

Diese andere Frau entpuppte sich als meine Mutter, die seit 19 Jahren verwitwet war. Berufliche Verpflichtungen und drei Kinder erlaubten es mir nicht, meine Mutter regelmäßig zu besuchen. Ich habe sie sehr selten besucht.

An diesem Abend rief ich sie an und lud sie zum Abendessen und ins Kino ein.

Meine Mutter war völlig überrascht. Sie fragte sogar: "Geht es dir gut? Stimmt etwas nicht?

Ich sagte ihr, dass es sehr schön wäre, wenn wir etwas Zeit miteinander verbringen würden, nur wir beide. Sie schwieg eine Weile, stimmte aber schließlich zu. Man konnte die Freude in ihrer Stimme hören.

Als ich am Freitag nach der Arbeit zu meiner Familie fuhr, war ich ein wenig nervös. Meine Mutter wartete bereits mit ihrem Mantel in der Hand an der Tür auf mich. Sie trug ein Kleid, das ich von ihrem letzten Hochzeitstag kannte, und ihr Haar war ordentlich gelockt. Sie schickte mir ein Lächeln und ihr Gesicht strahlte wie das Gesicht eines Engels. Plötzlich hörte ich: Ich erzählte meinen Freunden, dass ich mit meinem Sohn zum Abendessen ausgehen würde. Sie waren beeindruckt. Sie konnten es kaum erwarten, dass ich ihnen alles erzähle.

Wir gingen in das Restaurant, das nicht üppig, aber sehr nett und gemütlich war. Meine Mutter nahm meine Hand, als wäre sie die First Lady. Wir setzten uns und ich fing an, die Speisekarte zu lesen, weil meine Mutter nur die Großbuchstaben sehen konnte. Mitten im Lesen hob ich meinen Blick und sah sie an. Sie sah mich mit einem nostalgischen Lächeln auf den Lippen an. Plötzlich sagte sie: Ich habe dir immer vorgelesen, als du noch klein warst.

Es ist an der Zeit, dich dafür zu entschädigen. DU verdienst es, dich zu entspannen. -

Während des Mittagessens hatten wir ein sehr nettes Gespräch - nichts Besonderes, aber wir tauschten uns über die letzten Ereignisse in unserem Leben aus. Wir haben so viel geplaudert, dass wir den Film verpasst haben. Als wir nach Hause kamen, hörte ich die Worte: Ich würde gerne wieder mit Ihnen ausgehen, aber unter der Bedingung, dass ich Sie einlade. Ich stimmte zu.

Wie war das Essen? - fragte meine Frau zu Hause.

Sehr gut. Besser als ich es mir hätte vorstellen können. -

Ein paar Tage später starb meine Mutter an einem Herzinfarkt. Es geschah so plötzlich, dass ich keine Chance hatte, etwas für sie zu tun. Einige Zeit später erhielt ich einen Umschlag mit der Kopie einer Restaurantquittung aus demselben Lokal, in dem ich mit meiner Mutter gegessen hatte. Auf dem beigefügten Zettel stand: Ich habe die Rechnung im Voraus bezahlt. Ich war mir nicht sicher, ob ich es schaffen würde, hier zu sein, trotzdem habe ich für zwei Personen bezahlt. Für dich und deine Frau. Du hast keine Ahnung, wie viel mir diese Nacht bedeutet hat.

Ich liebe dich, mein Sohn.

In diesem Moment verstand ich die Bedeutung des Wortes "Ich liebe dich". Wir sollten Zeit mit unseren Lieben verbringen, denn sie haben es verdient. Nichts im Leben ist so wichtig wie die Familie. Verschieben Sie Ihre Liebsten nicht auf später. Morgen sind sie vielleicht schon weg...

Comments 5

  • Babs Sch 14/03/2022 15:15

    Ja, Silvia, zu Viele verschieben und denken...wir haben doch alle Zeit der Welt dazu.
    Eine Lehrerin unserer Schule war an Krebs erkrankt und es gab keine Hoffnung. Einen Besuch schob ich immer wieder auf. An dem Morgen als ich meinem Mann sagte ich komme heute Mittag später weil ich sie besuchen wollte erfuhr ich morgens in der Schule: sie war in der Nacht gestorben. Ich kam zu spät...
    Seither schiebe ich nie mehr etwas vor mir her und lebe im Jetzt...
    GlG Babs
  • Benita Sittner 13/03/2022 22:43

    ...eine sehr schöne Geschichte...VLG Benita
  • Ralf Melchert 13/03/2022 21:02

    Klasse
  • Tekla-Maria 13/03/2022 19:50

    was für eine herrliche Geschichte
    LG Sonja
  • DigiMatt 13/03/2022 10:25

    Eine sehr schöne berührende Geschichte.
    Das Foto gefällt mir übrigens auch - schöne weiche Unschärfe.
    LG Matthias