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Die rote Versuchung

Die rote Versuchung

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Ulrich Hollwitz


Premium (World), Heinsberg

Die rote Versuchung

An der Mauer des Spielwarenladens wartete eine rote Versuchung, die schon beim Näherkommen rief: „Gib mir einen Groschen. Einen Groschen nur. Ich werde dich reich beschenken!“ Das war der Kaugummiautomat. Sonntags hatte ich immer einige Groschen in der Hosentasche, denn sowohl von Vater wie von der Patentante gab es – nomen est omen – Sonntagsgeld. 30 Pfennig gingen für den Eintritt auf dem Fußballplatz drauf. Der Rest stand zur freien Verfügung. Also konnte man ohne schlechtes Gewissen zumindest einen Groschen im Kaugummiautomat versenken.
Der Automat funktionierte rein mechanisch. Der Schlitz, in den man den Groschen stecken musste, war häufig verstopft. Oft hatten es geizige Mitmenschen versucht, mit Ein-, Zwei- oder Fünf-Pfennig-Stücken den Automat zu überlisten. Oft verkantete sich dabei die zu kleine Münze und der Apparat war verstopft. Wenn das passiert war, hatte ich oft die nötige Fingerfertigkeit, um diese Münze dort rauszuholen, was mir dann a) einen bescheidenen finanziellen Zugewinn und b) den Zugang zum Kaugummi erlaubte.
Hatte man den Groschen dann endlich in den Schlitz des Automaten gefummelt, musste man den verchromten Drehgriff betätigen, der den Kaugummibehälter für kurze Zeit öffnete und die kugelförmige Ware in den Auslasstrichter fallen ließ. Damit die Kaugummikugeln bei diesem Vorgang nicht auf die Erde fielen, war am Auslass eine Aluklappe angebracht. Die war jedoch häufig so ausgeleiert, dass sie selbst eine einzelne Kaugummikugel nicht aufzuhalten vermochte.
War man wie ich ein Meister in der Handhabung des Kaugummiautomaten, hatte man schnell den Bogen raus, den Drehgriff so gefühlvoll zu betätigen, dass mehr als die üblichen ein oder zwei Kugeln, sondern sogar drei oder vier in den Schacht fielen. Hatte man besonders großes Glück, dann erhielt man eines der sparsam auf die Kaugummikugeln verteilten Gimmicks. Der Hauptgewinn war natürlich das Miniatur-Taschenmesser. Mit dem konnte man in der Regel nur sehr schlecht abschneiden, aber das machte nichts. Dieses Taschenmesser war ein Statussymbol. Er zeugte von Reichtum (der Besitzer hatte mehr als nur einen Groschen in den Automaten investiert), von Stil und von Lebensart.
An jenem Sonntag erhielt ich zwar nicht das Taschenmesser, aber neben drei Kaugummikugeln einen wunderbaren Herrenring in Silber mit einem magentafarbenen Edelstein. Der wurde natürlich sofort auf den passenden Finger gesteckt. So und nicht anders ging ein Herr von Welt sonntags zum Fußballplatz! Perfekt wurde der Sonntag dann durch einen relativ hohen Heimsieg des Fußballvereins, dem ich selbstverständlich als aktiver D-Jugend-Kicker ebenfalls angehörte.
An jenem Tag war es dann aber Mutter, die mir alle Illusionen raubte. Stolz präsentierte ich das wertvolle Schmuckstück. Mutter hatte ich, weil sie ein ganzes Schmuckkästchen besaß, als Expertin eingestuft. Sie schaute sich meinen Ring an, lachte kurz auf und sagte: „Von wegen Edelstein, das ist alles Plastik!“ Na ja, zumindest der Kaugummi hatte geschmeckt.

(Textauszug aus einem noch unveröffentlichten Buchmanuskript "Das wird gegessen - Genussgeschichten von früher", das auf meiner Festplatte ruht...)

https://www.fotogalerie226.de/

Comments 26

  • Twin O Caulin 25/08/2022 14:27

    Da bin ich aber sehr gespannt auf dein Buch - zumal ich mich beim Lesen gerade zurück in meine Kindheit gebeamt fühlte... Die Automaten waren ja noch bis in die späten 70er Jahre weit verbreitet. Habe genau vor meinem inneren Auge (und fühle mit meiner inneren Hand;-)), was du meinst.
  • Ingrid Ben 25/08/2022 8:28

    Beim Anblick des rechten Griffes denke ich mal, dass es da wohl die wertvollsten Schätze gab ;-) Eine richtig gute Geschichte mit schönem passendem Foto.
    LG Ingrid
  • Chrissie Thomneck 24/08/2022 14:13

    Und man stelle sich vor, diese Kaugummikugeln waren unverpackt - heute unvorstellbar - wegen der „Hygiene“ —— seltsam dass wir das überlebt haben ;-D , klasse Foto, noch besser deine Geschichte! VG Chrissie
  • Caroluspiel 24/08/2022 12:35

    Eine sehr amüsante Geschichte aus der Kindheit. Klasse
    ciao Philipp
  • skalare 44 24/08/2022 11:33

    Das w a r aber eine wirklich s e h r  gut geschriebenen Erinnerung!!!! wird Dein Buch in absehbarer Zeit mal veröffentlich werden?
    Und Erinnerungen an diese Automaten hab ich natürlich auch noch....ich war nicht so oft dran wie Du...aber wenn....Glück pur wenn nach dem Einwurf des kostbaren Groschens die Kugel gerollt kam.
    Mit solchen Automaten könnte man heute wohl kein Kind mehr vom PC weglocken;-)
    Lg Ursula - der natürlich auch diese gute Darstellung der stillgelegten Automaten sehr gut gefällt!!!
  • BluesTime 24/08/2022 10:13

    spuckt nix mehr aus, schöne story dazu
    lg
  • Norbert Borowy 24/08/2022 9:45

    Schulweg-Erinnerungen
  • Bricla 24/08/2022 7:39

    Herrlich. solltest du unbedingt veröffentlichen. So ein Gerät hängt noch neben der Kirche bei uns. Ich möchte nicht wissen, wie viele Kollekten in Kaugummi verwandelt wurden ;-)
  • Rpix 24/08/2022 7:18

    Klasse. Gruß Rolf
  • gatst 23/08/2022 22:56

    Bild und Text wecken einige Erinnerungen. Nur die Gitter sind erst später eingezogen.
    So ähnlich könnte sich die Geschichte auch bei uns im Hinterland zugetragen haben.
    Gruß Adolf!
    • Kaspar H. 24/08/2022 14:20

      Also würde sich das Foto, auch gut machen in einer kriminalhistorischen Monografie mit dem Titel: " Zunehmende Verletzung und zunehmender Schutz privater Eigentumsrechte -  dargestellt am Beispiel von Kaugummi-Verkaufsautomaten im Nachkriegsdeutschland"... ;_)
    • Kaspar H. 24/08/2022 14:46

      Ich hab direkt noch ein altes Foto auf der Festplatte vorgekramt,
      das ich zu diesem Band beisteuern könnte ;-).
      Bei diesem Automaten wurde auf eine nachträgliche Vergitterung verzichtet,
      wobei offen ist, ob dies auf die geringe Automatendiebstahlsrate
      im Siegerland zurückzuführen ist oder darauf, dass Schnapparmbänder auf dem Schwarzmarkt nur schwer weiterveräussert werden können ...
      Kaugummiautomat ...
      Kaugummiautomat ...
      Kaspar H.
    • Ulrich Hollwitz 24/08/2022 16:57

      @Kaspar H.: Auch ein sehr schönes Fundstück. Aber die Schmierfinken lauern überall.
  • Dirk-E 23/08/2022 21:22

    Ein feines Foto von diesem gut gesicherten Groschengrab - und ein prima Text dazu, in dem mir Vieles bekannt vorkommt :-)
    VG Dirk
  • jbd68 23/08/2022 21:19

    Sehr interessant zu lesen, durchaus fesselnd geschrieben. Nimm Dir ruhig mal die Zeit, weiter zu schreiben :) Das Bild ist der passende Knaller dazu :)) VG Björn
  • berutti 23/08/2022 20:26

    Ein tolles Farbbild !
  • Geri Barreti 23/08/2022 19:58

    ich würde da nicht in Versuchung geraten...allenfalls was das Fotografieren anbetrifft
  • ChrSchmitz 23/08/2022 19:57

    Ein Motiv für den österreichischen Maler Rudi Fitz ! Klasse ! LG Christof