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75 Jahre Befreiung vom Hitlerfaschismus – und die Reichstagsposse

75 Jahre Befreiung vom Hitlerfaschismus – und die Reichstagsposse

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smokeonthewater


Premium (World), Berlin

75 Jahre Befreiung vom Hitlerfaschismus – und die Reichstagsposse

Heute ist in Berlin Feiertag. Nur in Berlin. Fühlt sich der Rest von Deutschland nicht befreit?
Geschenkt, denn selbst in der DDR war der 8. Mai nur ein Gedenktag und kein Feiertag.

Für Demokraten ist der Tag der Kapitulation der "Tag der Befreiung", für die Neonazis der "Tag der Niederlage".
Die Russen feiern übrigens erst am 9. Mai, weil die Kaptulation nach Moskauer Zeit bereits nach 24 Uhr erfolgt war.

Das Ereignis wird immer wieder mit dem Reichstagsgebäude in Verbindung gebracht.
Dabei spielte es nach der Brandstiftung im Dritten Reich überhaupt keine Rolle, war nur eine Ruine.
Das wussten die Soldaten der Roten Armee offenbar nicht, sonst hätten sie ihre Flagge woanders gehisst.

Der erste Soldat mit Sowjetflagge auf dem Reichstag war Michail Minin am Abend des 30. April 1945.
Zu diesem Zeitpunkt war Adolf Hitler bereits ein paar Stunden tot, was aber noch nicht bekannt gegeben war.
Weitere Soldaten erklommen daraufhin mit Flaggen das Gebäude, ohne dass es dokumentiert worden war.

Weil diese triumphalen Momente in den Wirren des Kampfes untergingen, ließ Stalin die Szene wiederholen.
Am 2. Mai kletterten Meliton Kantaria, Michail Jegorow und Konstantin Samsonow nochmals mit Flagge hinauf.
Die beiden erstgenannten traten dabei in mehreren Fotos in Erscheinung. Wichtig: Kantaria war wie Stalin Georgier.
Fotograf mehrerer Bilderserien vom 1. und 2. Mai war der sowjetische Kriegsberichterstatter Jewgeni Chaldej.

Das gestellte Foto wurde vor seiner Erstveröffentlichung am 13. Mai 1945 im "Ogonjok" kräftig retuschert.
Das Staatswappen war nicht deutlich genug zu sehen, und die Fahne soll mehr ein Fetzen gewesen sein.
Der Qualm über der Stadt wurde geschwärzt, um die Szene noch dramatischer erscheinen zu lassen.
Und an den Handgelenken des Soldaten waren Armbanduhren zu erkennen; ob erbeutet, ist ungeklärt.

Kantaria und Jegorow wurden später in der DDR zu Ehrenbürgern der Stadt Berlin ernannt.
Als Präsident Boris Jelzin 1992 den Schwindel auffliegen ließ, wurde ihnen die Ehrenbürgerschaft aberkannt.
Während Michail Minin in Russland eine angemessene Würdigung erfuhr, passierte in Berlin ... nichts.

Die nächste Enthüllung folgte wenig später durch den Fotografen Chaldej selbst.
Auf dem Foto sei nicht der Georgier Kantaria zu sehen, sondern ein Soldat aus einer nichtgeorgischen Gruppe:
der Ukrainer Alexei Kowaljow, der Kumyke Abdulchakim Ismailow oder der Weißrusse Leonid Goritschew.
Um die Legende um Kantaria zu etablieren, hatte Stalin diese und andere Soldaten zur Verschwiegenheit verpflichtet.
Weiterhin kam heraus, dass Kantarias dritter Begleiter, Alexei Berest, nach dem Krieg in den Gulag gesteckt wurde.
Wahrscheinlich hatte er sein Verschwiegenheitsgelübde verletzt.

Comments 14

  • Anna Metz 19/05/2020 23:08

    sehr interessant Dieter ,Danke :)

    LG
  • karlitto 15/05/2020 8:55

    Ein Zeitdokument Vorher/Nachher. Gut in Wort und Bild zusammengefasst.
  • Fotobock 10/05/2020 20:06

    Gedenken an diesen Tag ist auch hier vorhanden. Eine gute Collage. lg Barbara
  • Norbert Wichmann 08/05/2020 21:44

    Natürlich war es eine Niederlage für das Deutsche Volk , denn die allermeisten Wehrmachts-Soldaten waren gezwungene Wehrpflichtige mitten aus dem Volk ! Mein Vater war damals ein 24-jähriger Leutnant z. See der Kriegsmarine und an den Flüchtlings-Transporten über die Ostsee in Saßnitz / Rügen beteiligt . Als ich Kind war , haben die meisten Erwachsenen selbstverständlich von einer deutschen Niederlage gesprochen . Deshalb ist obiger Vergleich nur mit der Gnade der späten Geburt zu erklären sowie mit heute üblichen Begrifflichkeiten .
    • anne47 08/05/2020 22:12

      die jungen Soldaten sind natürlich von Jugend an auf Linie gebracht worden und viele haben ja bis zum Schluss noch auf eine Wunderwaffe gehofft. Die Älteren waren nicht mehr so naiv und fanatisch, von ihnen haben viele das Ende des Krieges ersehnt. Natürlich kamen viele in Gefangenschaft und man hat sie dort nicht mit Samthandschuhen angefasst. Aber sobald das normale Leben wieder los ging, waren viele froh, den Nationalsozialismus hinter sich gelassen zu haben.
    • smokeonthewater 08/05/2020 22:46

      Norbert, von den Soldaten ist keiner mit demokratischen Idealen (so wie heute die US Army bei der vermeintlichen "Verbreitung demokratischer Werte" in aller Welt) in den Krieg gezogen. Entweder waren sie politisch hirngewaschen, oder sie meldeten sich aus Abenteuerlust bzw. freier Wahl der Waffengattung freiwillig, oder sie wurden per Wehrpflicht eingezogen. Gegen Ende des Krieges hatte eigentlich jeder begriffen, was Krieg für ein Verbrechen ist, auch weil immer mit einer persönlichen Niederlage (seelisches Trauma, Skrupel, Verwundung, Gefangenschaft, Hunger, Heimweh) verbunden.

      Gerade die Älteren waren es, die die Jugend in den Krieg geführt hatten. Und auch nach dem Krieg bewahrten viele unverbesserliche Ältere ihre ideologische Verdorbenheit wie Antisemitimus und Gewaltverherrlichung. Sie haben trotz manch brauner Vergangenheit wichtige Posten besetzt, denn die Jungen hatten ja außer Krieg nichts gelernt.

      Dass die Menschen nach dem Krieg von einer Niederlage gesprochen haben, ist doch klar. Demokratie war für sie weitgehend unbekannt, und viele hatten Hab und Gut oder Heimat verloren. Für das deutsche Volk war bereits die Wahl des Diktators Hitlers eine Niederlage der Demokratie (Weimarer Republik), nicht das Kriegsergebnis; das war nur die Spätfolge. Letztendlich war es eine Niederlage der Diktatur, nicht des Volkes, das nur verheizt wurde.

      Ich kann mir nicht vorstellen, heute in einer solchen Diktatur zu leben, nachdem ich die DDR hinter mir gelassen habe. Und die "Gnade der späten Geburt" ist seit Kohls Entgleisung 1983 in Israel eine Formulierung, die kein demokratisch denkender Mensch mehr verwendet.
  • anne47 08/05/2020 21:40

    Irgendwie ist das ja eine amüsante Geschichte, die allerdings auch auf amerikanischer Seite in ähnlicher Form stattgefunden hat, z. B. in Remagen. Schließlich muss man solche geschichtsträchtigen Momente ja für die Nachwelt aufzeichnen und ein bisschen stolz darf man ja auch sein, Deutschland in die Knie gezwungen zu haben. Bestimmt gab es auch einen Orden. Dass es eine Befreiung war, wurde den meisten ja erst viel später klar und den Deutschen ist es ja z. T. heute noch nicht klar, sonst hätte man es spätestens vor 30 Jahren als Feiertag einführen können. Ich jedenfalls bin froh, im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen zu sein. Eine Jugend im Nazistaat möchte ich mir gar nicht vorstellen.
    Für mich ist der 8. Mai ein Befreiungstag
    LG Anne
  • homwico 08/05/2020 20:58

    Wandel im Zeichen der Zeit.....(grins) Prima Doku!
    LG homwico
  • Kurt CLAUS 08/05/2020 18:33

    Gut so, alte und neue Fahnen gegenüber zu stellen. Deine ersten 4 Zeilen sind wichtig, BEFREIEND klar ausgedrückt. 
    Das Feiern gelingt uns nicht so richtig, aber gedenken schon ! Wohl wissend, dass in den nachfolgenden Jahren eineswestteils die Marshall-Kredite und einesostteils der Stalinismus das Land auf lange Zeiten spaltete.
    • anne47 08/05/2020 21:44

      ich dachte immer, die Flagge wäre auf dem Brandenburger Tor gehisst worden
    • smokeonthewater 08/05/2020 22:54

      Anne, dort vielleicht auch, aber was ist ein Stadttor gegen ein vermeintliches Regierungsgebäude. Ansonsten war es 1989, als bei der Maueröffnung die Deutschlandfahne auf dem Brandenburger Tor hochgezogen wurde.
    • anne47 08/05/2020 23:08

      ich habe gestern erst die Bilder gesehen in einer Doku
    • smokeonthewater 08/05/2020 23:11

      Vielleicht haben die Russen das Tor für einen Triumphbogen gehalten (so was gibt es auch in Moskau). Berühmt geworden ist aber nur die Flagge auf dem Reichstag.

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Exif

Camera SLT-A58
Lens Tamron AF 18-200mm F3.5-6.3 XR Di II LD Aspherical [IF] Macro
Aperture 8
Exposure time 1/400
Focus length 200.0 mm
ISO 100

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