Back to list
Zechensiedlungen im Ruhrgebiet

Zechensiedlungen im Ruhrgebiet

2,504 3

Johannes Zakouril


Premium (Pro), Neu-Ulm

Zechensiedlungen im Ruhrgebiet

Ob in Bottrop, Oberhausen, Essen, Gelsenkirchen oder Dortmund: Arbeitersiedlungen prägen auch heute noch das Gesicht des Ruhrgebiets, obwohl alle Zechen stillgelegt sind. Entstanden sind sie während der industriellen Blütezeit des Ruhrgebiets.
Die Industrie braucht Arbeitskräfte
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts ist das heutige Ruhrgebiet zu großen Teilen schwach besiedeltes Bauernland. Insgesamt leben hier nur 250.000 Menschen. Durch die Industrialisierung ändert sich das Bild: Zechen, Hütten- und Stahlwerke entstehen, und diese neuen Betriebe brauchen Arbeiter.
Zunächst kommen Zuwanderer aus benachbarten Regionen wie dem Siegerland, aus Westfalen und dem Rheinland. Doch mit dem Aufschwung des Bergbaus und der Eisen- und Stahlindustrie ab den 1870er-Jahren wächst der Bedarf an Arbeitskräften stark.
Die Zechenbetreiber werben in weiter entfernten Gegenden um Arbeiter, vor allem in ländlichen Gegenden Polens und in den preußischen Ostprovinzen. Eine riesige Wanderungsbewegung setzt ein.
Das explosionsartige Bevölkerungswachstum führt schnell zu einem dramatischen Wohnungsmangel. Die wenigen Häuser sind überbelegt und wegen der schlechten sanitären Verhältnisse Brutstätten für Seuchen und Epidemien. Die Werksbesitzer reagieren und bauen in der Nähe der Zechen Siedlungen für ihre Arbeiter.
Mit diesen Werkssiedlungen wollen sie zum einen die Arbeiter und ihre Familien sesshaft machen und qualifizierte Kräfte an den Betrieb binden. Zum anderen sind große und günstige werkseigene Wohnungen wichtige Argumente, wenn es für die Zechen darum geht, neue Arbeiter anzuwerben.

Siedlung Vondern in Oberhausen um 1913
Preiswerte Wohnungen
Der Werkssiedlungsbau entwickelt sich zu einem Massenphänomen und mildert die Wohnungsprobleme, die die Einwanderungswelle schafft. Um 1900 lebt rund jeder fünfte Arbeiter und sogar jeder dritte Bergarbeiter im Ruhrgebiet in einer der über 25.000 Siedlungswohnungen.
Diese Wohnungen sind größer und zum Teil fast um die Hälfte billiger als auf dem freien Markt. Auch unterscheiden sich die Siedlungen grundsätzlich von den riesigen Arbeiterkasernen, die in Großstädten wie Berlin und Hamburg üblich sind und den Bewohnern wenig Raum, Licht und Luft lassen.
Beim Bau der Arbeitersiedlungen versucht man stattdessen, die dörfliche Heimat der Zuwanderer zu berücksichtigen und ihre Bindung an die Natur zu bewahren: Typisch sind ein- oder zweistöckige Backsteinhäuser mit vier Wohnungen. Jede Wohnung hat einen eigenen Eingang, drei bis vier Zimmer und ist um die 50 Quadratmeter groß. Die Elternschlafzimmer befinden sich oft im oberen Stockwerk, damit die Schichtarbeiter tagsüber in Ruhe schlafen können.
Die Häuser stehen nebeneinander gereiht und sind durch schmale Fußwege miteinander verbunden. Hinter den Häusern befinden sich Gärten mit Ställen. Hier können die Familien Gemüse, Kartoffeln und Obst anbauen und sich ein Schwein halten – oder eine "Bergmannskuh". Diese "Kuh" braucht jedoch erheblich weniger Platz als normale Rindviecher, denn Bergmannskuh ist die scherzhafte Bezeichnung für eine Ziege.
So bessern sich die Bergleute ihren Unterhalt auf. Für die höheren Angestellten werden meist eigene Siedlungen mit geräumigeren Wohnungen gebaut, die von den Arbeiterkolonien deutlich getrennt sind.

Obst und Gemüse aus eigenem Anbau
Kontrolle durch die Unternehmen
Die zumindest teilweise Eigenversorgung ist allerdings nicht nur für die Bewohner attraktiv, sondern auch für die Unternehmen. Gemeinsam mit den niedrigen Mieten sorgt sie für relativ geringe Lebenshaltungskosten, die wiederum niedrige Löhne ermöglichen.
So können sich viele Familien auch eine Koloniewohnung nur leisten, indem sie einen oder mehrere Untermieter aufnehmen, so genannte Kost- oder Schlafgänger. Diese bessern zwar die Kasse der Familien auf, sorgen aber auch für äußerst beengte Wohnverhältnisse.
Dennoch: Im Vergleich zum freien Wohnungsmarkt bieten die Zechenbetreiber ihren Arbeitern äußerst günstige Mietbedingungen. Sie tun dies, um qualifizierte Leute langfristig an ihren Betrieb zu binden. Darum koppeln sie auch oft Arbeits- an Mietverträge. Dadurch verliert ein Bergarbeiter, der seine Stelle kündigt, etwa weil er in einer anderen Zeche anfangen möchte, automatisch seine Wohnung.
Unternehmen wie Krupp oder die Gutehoffnungshütte schreiben in ihren Mietverträgen zudem oft rigide Verhaltensmaßregeln für die Mieter fest. Überwacht werden die Bewohner dabei nicht nur durch die soziale Kontrolle ihrer Nachbarn, sondern zum Teil durch regelrechte Aufseher. Diese wohnen zentral in den Kolonien und halten stets ein waches Auge auf das Treiben in den Siedlungen.
Die Rechnung der Unternehmer geht auf: Die zugewanderten Arbeiter werden in den Siedlungen vor den Toren der Zechen und Fabriken heimisch. Koloniebewohner wechseln ihre Stelle erheblich seltener als Arbeiter, die nicht in Siedlungen leben.

Alfred Krupp (1812-1887) baute für seine Arbeiter zahlreiche Siedlungen
Von der Gleichförmigkeit zur Vielfalt
Der Bau von Arbeitersiedlungen geschieht bis 1890 vor allem unter sachlichen und zweckmäßigen Gesichtspunkten: Preiswerter Wohnraum muss her. Die Planung der Siedlungen ist somit eine Aufgabe für die Bauplaner und Techniker der Zechen und nicht für künstlerisch ausgebildete Architekten.
Dementsprechend sehen frühe Siedlungen oft recht eintönig und phantasielos aus: Der Grundriss ist rasterförmig. Die schlichten Backsteinhäuser sehen sich zum Verwechseln ähnlich und stehen in gleichmäßigem Abstand voneinander in rechtwinkligen Reihen.
Ab 1890 beginnt sich auch die Architektur für den Bau von Arbeitersiedlungen zu interessieren und kritisiert die geometrisch starren Bebauungspläne. Das Bild der Siedlungen ändert sich. Sie werden grüner und abwechslungsreicher. Mit der Idee der Gartenstadt, die Anfang des 20. Jahrhunderts von England nach Deutschland schwappt, tritt endgültig der ästhetische und künstlerische Gesamtentwurf vor den reinen Nutzwert einer Siedlung.
Die Gartenstadtbewegung entsteht als Reaktion auf die katastrophalen Verhältnisse in Arbeitervierteln von Metropolen wie New York und London. Den Elendsquartieren wird ein Siedlungsentwurf entgegengesetzt, der die Häuser in Gärten und ins Grüne einbettet, eine lockere Bauweise und Einfamilienhäuser bevorzugt.
Die Siedlungsplaner im Ruhrgebiet übernehmen diese Gartenstadt-Ideen: Straßen und Wege werden geschwungen angelegt und mit Plätzen verbunden. Häuser werden nicht isoliert betrachtet, sondern in Gruppen angeordnet. Solche Gartenstadt-Einflüsse finden sich zum Beispiel in der Siedlung Teutoburgia in Herne oder in der Gartenstadt Welheim in Bottrop.

Siedlung Teutoburgia in Herne
Prächtiger Sonderfall: Margarethenhöhe
Im Essener Süden liegt eine der bekanntesten Siedlungen des Ruhrgebiets: die Margarethenhöhe. Allerdings ist das Vorzeigeviertel streng genommen keine Arbeitersiedlung und zählt nicht zum Werkswohnungsbau. Denn Margarethenhöhe wird Anfang des 20. Jahrhunderts nicht von einer Zeche oder einer Fabrik gegründet, sondern von der privaten Margarethe-Krupp-Stiftung.
Die Witwe des Industriellen Alfred Krupp ruft die "Stiftung für Wohnungsfürsorge für minderbemittelte Klassen" 1906 ins Leben. Anlass ist die Hochzeit ihrer Tochter. Eine Million Mark und 50 Hektar Land stellt Margarethe Krupp ihrer Stiftung zur Verfügung.
Ab 1909 wird Margarethenhöhe gebaut. Die Leitung hat der hessische Architekt Georg Metzendorf. Und der kann so frei schalten und walten wie kaum einer seiner Berufskollegen. Durch einen Regierungsbeschluss ist das Siedlungsprojekt von allen damals geltenden Bauvorschriften befreit.
Neben der Gartenstadt-Idee prägt der romantische, süddeutsche Einfluss das Bild der Siedlung. Die Häuser sind wie in einer dörflichen Siedlung angeordnet. Ihre Fassaden, Dächer und Fenster sind individuell und damit abwechslungsreich gestaltet.
Später löst ein funktionalerer Stil die romantischen Giebelhäuser ab. Die Wohnungen sind für damalige Verhältnisse fast schon luxuriös ausgestattet, unter anderem mit Kachelofenheizung und Wasserklosett. Margarethenhöhe steht von Beginn an nicht nur Arbeitern der Krupp-Werke offen, sondern allen "Minderbemittelten", die nicht genügend Kapital zum Hausbau haben.
Seit 1948 ist die Siedlung ein eigenständiger Stadtteil Essens und bei den gut 8000 Einwohnern auch heute noch eine beliebte Wohngegend.Christoph Teves


Comments 3

  • kristofor 02/06/2023 14:52

    Mit Schnee noch schöner...
  • JEAN72 21/05/2023 12:15

    Darf ich was in diesem Zusammenhang anmerken? Früher haben die Unternehmen noch Werkwohnungen in der Nähe der Fabrik gebaut. Heute wird alles verkauft und von den verbliebenen Unternehmen können die Mitarbeiter zusehen, wie sie zur Arbeit kommen. Überteuerte Wohnungen in den Zentren und ansonsten sehr lange Anfahrtswege, die ja auch wieder nicht zu unserem Umweltschutz beitragen. Öffentliche Verkehrsmittel, die mal fahren oder mal nicht (ohne Streik) oder kommen täglich zu spät. Überfüllte SBahnen, Busse, die sich auch durch die Staus kämpfen, frustrierte Menschen, lange Wege, alles wird teurer… Ich würde meinen, dass Krupp ein komisches Beispiel ist. Aber es sei dahingestellt, wenn man unendliche Profite macht und Menschen dafür knechtet. Es gab Zeiten, da mussten Menschen 7 Tage die Woche in die Fabrik arbeiten gehen u.a. in den Krupp Werken. Erst durch die Arbeiterbewegung und die Gewerkschaften hat sich der Zustand gebessert. Und ob Krupp oder Gruson oder wie sie alle heißen ein schlechtes Gewissen hatten? Deshalb die Wohnungen günstig finanzieren ließen ober gar selbst bauen lassen haben. Da haben Krupp etc. garantiert auch davon profitiert. Vielleicht könnten Unternehmen mit dem Fachkräftemangel auch einmal über diesen Aspekt nachdenken. Aber da kommen noch die Aktionäre und dann wird mit dem Rotstift alles gestrichen, damit die Zahlen besser in den Bilanzen aussehen. Wohnungsbau im Öffentlichen funktioniert nicht und die Unternehmen unternehmen auch keine Anstrengungen mehr. Es geht nur noch ums Geld. Das ist Fakt! LGJean
    • Johannes Zakouril 21/05/2023 17:16

      Gute ergänzende Anmerkung von Dir.
      Zurück zur Gegenwart: Die Probleme der jetzige bezahlbaren Wohnungsnot ist politisch hausgemacht und war gewollt. U.a. gab es früher bezahlbare Werkswohnungen mit den Januskopf dadurch auch Arbeiter an die Firma zu binden, zwecks Abhängigkeiten. Lange Zeit wurden dauerhaft echte staatliche gemeinnützige Sozialwohnungen gebaut, mit einer dauerhaften Preisbindung.
      Ebenfalls hatten da die Gewerkschaften, z.b. Neue Heimat und die Kommunen Wohnungen als Eigentum, ebenfalls auf Dauer bezahlbar. Später der sozialen Wohnungsbau gestoppt wurde zugunsten einer staatlich verortnete Privatisierungswelle. Bund, Länder und die Städte verkauften für ein Butterbrot alle Sozialwohnungen an die Wohnungsbaukonzerne. Diese Strategie von Privatisierung aller Teile der Gesellschaft ist gewollt, ganz zu schweigen vom Gesundheitswesen, Bahn, Post, Renten geplant durch Aktiengeselleschaften usw....
      liebe Grüsse
      Johannes

Information

Sections
Views 2,504
Published
Language
License

Exif

Camera V-LUX 1
Lens ---
Aperture 4
Exposure time 1/250
Focus length 7.4 mm
ISO 100

Appreciated by