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Tuchfabrik Müller - Spinnerei

Tuchfabrik Müller - Spinnerei

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† Ingeborg K


Premium (World), Neuss

Tuchfabrik Müller - Spinnerei

Die Tuchfabrik Müller arbeitete mit einem Maschinenbestand aus der Zeit um 1900 bis zur Schließung 1961. Der Besitzer Kurt Müller sah sich Anfang der 1960er Jahre gezwungen, die Produktion einzustellen, weil er nicht mehr genügend Aufträge bekam. Er hegte aber die Hoffnung, dass er die Fabrikation wieder aufnehmen könne, und erhielt die gesamte Fabrikeinrichtung – so wie sie am letzten Betriebstag verlassen wurde. Die folgende Zeit verfiel die Anlage in einen „Dornröschenschlaf“, der gut 20 Jahre dauerte.
Anfang der 1980er Jahre entdeckten Denkmalpfleger das Ensemble als Zeugnis der Technik- und Sozialgeschichte. Auf Grund der authentischen Überlieferung des gesamten Fabrikensembles wurde die Tuchfabrik schon bald als „Glücksfall der (…) rheinisch-westfälischen Industriegeschichte“ und als „Denkmal von nationalem Rang“ bezeichnet und unter Denkmalschutz gestellt.[1][2] 1988 übernahm der Landschaftsverband Rheinland die Fabrik, um aus ihr einen Schauplatz des damals im Aufbau befindlichen dezentralen Rheinischen Industriemuseums (heute LVR-Industriemuseum) zu machern.
Auf diese Weise blieb das gesamte Gebäudeensemble der Tuchfabrik der Nachwelt nahezu unberührt erhalten: der Fabrikbau von 1801, das Maschinen- und Kesselhaus, das Unternehmerwohnhaus, das Woll- und Tuchlager, das Kontor, der Dampfkessel, die Dampfmaschine, die Kraftübertragung über Transmissionswellen und -riemen und die ca. 60 Großmaschinen zur Wolltuchherstellung. Auch der Nutzgarten und die Obstwiese, die unmittelbar an das Fabrikensemble angrenzen und von der Unternehmerfamilie bestellt wurden, sind erhalten.[3]
Der Maschinenpark spiegelt „nahezu lexikalisch die … Textilmaschinenproduktion der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts“.[4] Bemerkenswert ist zudem die komplette Überlieferung. „Eine so vollständig erhaltene Fabrik (…) der Jahrhundertwende gibt es nirgendwo in Europa. Erhalten ist alles.“[5] Neben den Maschinen blieb „nahezu das komplette Arbeitsplatzinventar“[6] überliefert: Materialien, Garnrollen, Werkzeuge, selbstgebastelte Hilfsmittel, Ersatzteile, Hinweisschilder, Notizen der Arbeiter, Arbeitsanleitungen an den Wänden. Auch persönliche Habseligkeiten der Arbeiter wurden an den Arbeitsplätzen und in den Spinden gefunden: zum Beispiel Kaffeetassen, Kämme, Handbürsten, Spiegelscherben, Kopfschmerztabellen, Zigarettenschachteln, ein durchgetretener Schuh.[7] Alle diese Inventarteile tragen wesentlich zur besonderen Anmutung und Denkmalqualität der Tuchfabrik bei, die sich nicht allein aus den Gebäuden und den großen Maschinen, sondern aus dem gesamten Ensemble mit insgesamt über 5000 Inventarteilen nährt. In dieser dichten Überlieferung bekommen gerade die einfachen und vermeintlich unwichtigen Alltagsgegenstände eine besondere Bedeutung, weil sie einen „Zeugniswert für historisch verschwundene Arbeitsweisen“ besitzen und damit wesentlich zur Aussagekraft des Objektes beitragen.[8]
Die Geschichte der Tuchfabrik wurde zunächst im Rahmen eines Forschungsprojekts in Bezug auf die Technik, die Arbeit und das Inventar minutiös dokumentiert. Im Jahr 2000 öffnete das Museum nach der umfangreichen aber behutsamen Restaurierung als letzter Schauplatz des dezentralen LVR-Industriemuseums die Fabrik für Museumsbesucher. Ziel der musealen Präsentation war es, „die Fabrik in ihrem einzigartigen Gesamtzusammenhang vollständig zu erhalten und den historischen Bestand nur sehr zurückhaltend und unmittelbar objektbezogen zu erläutern und zu ergänzen.“[9]:31–51, 39 f Bautechnisch und restauratorisch war das Museum bestrebt, den Zustand des letzten Betriebsjahres 1961 zu konservieren und gegebenenfalls wiederherzustellen. Die Maschinen und sämtliche Inventarteile präsentieren sich an dem Platz und in dem Zustand des letzten Betriebstages. Die „Sammlung der Ausstellungsstücke und ihre Anordnung hat gewissermaßen die Geschichte selbst vorgenommen.“[10] Im Ergebnis bietet die Tuchfabrik nicht den Eindruck eines klassischen, nach wissenschaftlichen Kriterien geordneten Museums, sondern eher einer lebensnahen und komplexen Fabrikwelt.

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