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B.A. Alita


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Melancholie

Sei mir gegrüßt, Melancholie,
Die mit dem leisen Feeenschritt
Im Garten meiner Phantasie
Zu rechter Zeit an's Herz mir tritt!
Die mir den Muth, wie eine junge Weide,
Tief an den Rand des Lebens biegt,
Doch dann in meinem bittren Leide
Voll Treue mir zur Seite liegt!

Die mir der Wahrheit Spiegel hält,
Den düster blitzenden, empor,
Daß der Erkenntnis Thräne schwellt
Und bricht aus zagem Aug' hervor.
O strenge Rache nimmst du Dunkle immer,
Wenn ich dich mehr und mehr vergaß
Ob lärmendem Geräusch und Flimmer,
Die doch an meiner Wiege saß!

Es hängt mein Herz an eitler Lust
Und an der Thorheit dieser Welt;
Oft mehr, als eines Weibes Brust,
Ist es von Außenwerk umstellt!
Und selbst den Trost, daß ich aus eignem Streben,
Daß Alles nichtig ist, erkannt,
Nimmst du und hast mein stolz' Erheben
Zu Boden also bald gewandt,

Wenn du mir lächelnd zeigst das Buch
Des Königs, den ich oft verhöhnt,
Aus dem es, wie von Erz ein Fluch:
Daß Alles eitel sei! ertönt.
Und nah' und ferne hör' ich dann erklingen
Gleich Narrenschellen ein Getön –
O Göttin, laß mich dich umschlingen,
Nur du, nur du bist wahr und schön!

[Gottfried Keller, Melancholie]

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