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LONDON BC (Before Corona) - 98 - Musikgeschichte am Highbury Green

LONDON BC (Before Corona) - 98 - Musikgeschichte am Highbury Green

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LONDON BC (Before Corona) - 98 - Musikgeschichte am Highbury Green



Bestimmt erinnern sich die Älteren unter uns, was sie im Herbst 62 so getrieben haben.
Nein? Doch nicht? - Nun, ehrlich gesagt, ich weiß es auch nicht...



Auf jeden Fall - an einem dieser Tage machen in LONDON fünf junge Kerle
eine kleine Weltreise mit der U-Bahn, quer durch die Stadt; von Chelsea nach Highbury.
Nun stehen sie am Highbury Green [ LONDON BC - 75 ] auf dem Bürgersteig und schauen
mit gemischten Gefühlen über eines dieser schmiedeeisernen Geländer hinunter zu einer Tür im Basement.

Wie viele andere auch versuchen sie gerade, eine Band auf die Beine zu stellen.
Irgendwas mit Rock oder Blues. So in der Richtung halt...
Der jüngste ist 18, der älteste 22, man wohnt noch bei den Eltern, aber einer hat schon 3 Kinder.

Eigene Songs gibt's natürlich noch keine, dafür etliche Coverversionen von US-Vorbildern.
Nur ein einziges Mal haben sie bisher vor Publikum gespielt - aushilfsweise.

Erwartet werden sie jetzt am Fuß der Außentreppe von Curly Clayton,
einem professionellen Jazzer, der sich im Keller ein kleines Aufnahmestudio eingerichtet hat.
Am Telefon hat der Routinier mit dem Nachwuchs einen kleinen Deal vereinbart:
Sie haben 1 Stunde Zeit, um 3 Stücke für eine Acetat-Pressung einzuspielen. Acetat?
...eine Unikatpressung auf Metall, überzogen mit einer Lackschicht aus Nitro-Acetat.
Wird für Demozwecke produziert, kann nur ein paar mal abgespielt werden
und ist danach für immer unbrauchbar. Waste sixty-two.

Im Keller will Clayton vor allem anderen Bares für Rares (Acetat!)
- sage und schreibe 3 Pfund! Ganz schön viel für Jungs mit nix in der Tasche.
Aber egal, sie kratzen das Geld zusammen, und bestaunen zum ersten mal ein "richtiges " Studio:
Eierkartons als Schallschutz an den Wänden und der Decke. In der Mitte des Raums 1 Mikro.
(In Worten: EINS). Das Piano an der Wand ist weit weg vom Mike, denn es ist dort festgedübelt...
In einem Winkel steht ein kleines Wunderwerk, ein richtiges 3-Spur-Aufnahmegerät. State of the art!

Die Playlist ist kurz, aber knackig - Jimmy Reid's "Close Together", "You can't judge a book
by the cover", in der Bo Diddley Version, und schließlich Muddy Waters, the legend: "Soon Forgotten".
Nach 60 Minuten geht's wieder zurück nach Chelsea, in der Tasche die 3 kostbaren Acetate.

Hier könnte die Geschichte zu Ende sein - tausende von Teenies- und Nachwuchsbands
probieren sich damals aus, spielen ein paar Kneipen-Gigs und verschwinden wieder.
Und die Acetate? Die landen bei den Plattenfirmen erst im Briefkasten,
dann (vielleicht) auf dem Abspielteller und ein paar Tage später (bestimmt) im Mülleimer.

Das Teil mit der Bo Diddley Version findet aber seinen Weg zu einem Trödler,
der Ende der 80er irgendeinem unbedarften Typen 3 Pfund (...) dafür abknöpft.
Die Uraltscheibe - ohne jede Kennzeichnung - lässt sich tatsächlich zu Hause abspielen und...
JETZT GANZ GANZ TAPFER SEIN und die nächste Minute nicht weglaufen!!!
https://www.youtube.com/watch?v=Vd8Fihnb5oA

Nachtrag 1: Im Line-Up fehlen Bill Wyman und Charlie Watts, die gehören im Oktober 62 noch nicht dazu.

Nachtrag 2: Der Zuständige bei EMI hört sich das Acetat ein paar Mal an und ist sich dann sicher:
"They will never get anywhere with THAT SINGER!"





Comments 28

  • Tassos Kitsakis 09/07/2021 20:15

    So entsteht Geschichte. Diese Zeit war damals so etwas, wie eine kleine Renaissance.
    Gute Photographik das Bild.
    • wagner-wiewerwas 09/07/2021 20:41

      Ja, deine Formulierung gefällt mir, Tassos.
      Geschichte fällt nicht einfach so vom Himmel, sie "entsteht".
      Und oft genug sind die Umstände banal und sehr alltäglich.
      Die Zeit damals war, da stimme ich dir zu, eine wirkliche "Renaissance". Und keine kleine...

      smile
      Dieter
  • Saba1012 04/07/2021 11:58

    Das waren meine Teenie-Idole … nein, nicht die Beatles … wie bei den anderen Mädels … es mussten Mick Jagger und Co sein, die mein Herz höher schlagen ließen und darum interessiert mich diese Geschichte besonders, Dieter! Dein Insider-Wissen wie immer interessant, amüsant und höchst informativ!
    Gruß Sabine
    • wagner-wiewerwas 04/07/2021 18:48

      Ein weiblicher Stones Fan, schon damals...
      Damit stehst du irgendwie unter Artenschutz, Sabine! :-)))
      Freut mich sehr, wenn ich mit meinen Stones Interna
      auch dein Musik-Herz erreiche!
      PS: Konntest du denn den Sound
      dieser ersten Einspielung - über den Link - ertragen??!
    • Saba1012 05/07/2021 10:37

      Ertragen? Ich war ja vorgewarnt und das Knistern habe ich weitgehend ausgeblendet und intensiv der Stimme von Mick gelauscht! Man kann sie wirklich erkennen! Ein akustisch-historisches Schätzchen hast du da aufgetan!
  • andreas eggstein 29/06/2021 1:40

    Fotografie und Text ...
    ... sind wie immer -
    bei DIR ...
    ... einfach TOP !!!
    Nur ...
    ... Jahrgang 1962 -
    war ich einfach ...
    ... noch nicht da ;-)

    Herzlich
    Andi
  • xDreamer 27/06/2021 20:51

    Wieder ein tolles Stück Zeitgeschichte präsentiert! Prima Beitrag!
    VG Detlef
    Schattenreich
    Schattenreich
    xDreamer
  • Jens Pönisch 25/06/2021 23:47

    Wieder eine krasse Story zum Bild
  • Manfred Hentschke 25/06/2021 22:15

    Ein sehr gut gestalteter Beitrag zum heutigen Thementag.
    Gruß Manfred
    Lange Schatten
    Lange Schatten
    Manfred Hentschke
  • Mario_MS 25/06/2021 21:26

    Also ich war da stolze 5, aber meine Eltern haben zu der Zeit sowieso auf andere Musik gestanden. Danke für die interessante Story und die Acetat Gehörangriff Verlinkungen. Da hat ja noch der geniale Brian J. mitgespielt. Das Dokumentationsfoto ist beeindruckend. Ist das heute ein Lost Place, eine Kultstätte oder ein Museum? Viele Grüße Mario
    • wagner-wiewerwas 25/06/2021 21:59

      "Gehörangriff"... - das trifft es wirklich.. sehr gut, Mario! Man muss sich nur vorstellen, man wäre 1962 bei EMI ein "Entscheider" gewesen... oh oh oh ....

      Und die Geschichte von Brian Jones... ja, das ist einfach nur tragisch.
      Wie du bestimmt weißt, fand er den Tod in seinem Pool auf der Cotchford Farm. Dass die Farm aber mal A.A.Milne gehörte, dem Autor der Winnie-the-Pooh Bücher - also, das finde ich schon ziemlich bizarr...

      Die Location, in der die (späteren) Stones ihr erstes Demo zogen, ist heute alles andere als ein "Lost Place". Aber auch weit entfernt vom Status einer Kultstätte.

      Als ich 2012 das Foto aufnahm, sagte eine Stimme dicht hinter mir, sehr ungnädig: "Why are you taking a photo of MY house??!" - Wie sich herausstellte, hatte
      die Hausbesitzerin keinen blassen Schimmer von den Ereignissen im Herbst 62.
      Als ich ihr erzählte, was sich dort abgespielt hatte, sagte sie nur schmallippig
      und mit britischem Understatement: "Well... I wonder what my husband
      will think about that." - - - 

      PS: 100 Meter weiter gibts die beste PRIVATE accomodation der Stadt.
      "But keep that for yerself, mate, will ye?!"
    • Mario_MS 25/06/2021 22:32

      Yes, I will.
      I bet you to say that to all the boys ;-)
       
      Zu EMI: die haben zu der Zeit öfters daneben gelangt. Aber deine Erlebnisse mit der „Nachmieterin“ und dem Pool-Drama von Mr. Jones ergeben ja glatt Stoff für einen Fortsetzungsroman. Ich freue mich schon darauf.
  • Stefan Strobl 25/06/2021 20:35

    1962 habe ich vermutlich Bauklötze gestapelt und meinen BMW herumgeschoben. Auf meinem ersten Stones-Konzert war ich 1976. Spätestens ab da zählte ich mich zu den bösen Buben.
    Dein Text weckt sentimentale Erinnerungen, wobei ich diese Story noch nicht kannte (herrlich auch das Tondokument).
    Zum Bild: Gefällt mir sehr, die Perspektive und so grafisch hart.
    HG Stefan
    • wagner-wiewerwas 25/06/2021 22:08

      Deine Antwort, lieber Stefan, ist atmosphärisch
      mindestens so aufgeladen wie die erste Studiosession der Stones.... 
      Dank dir dafür!
      Herzlich
      Dieter
  • s. monreal 25/06/2021 16:02

    Was für eine Geschichte. Was für ein Irrtum - wie so oft echten Erfolgsgeschichten..
    Vielen Dank für den gelungenen dreiteiligen Beitrag.
    VG Stephan
  • Caroluspiel 25/06/2021 14:26

    Ein überraschender Einblick. Stark gemacht. +++
    ciao Philipp.
  • Grabinu 25/06/2021 12:57

    bin da ( zwar knapp ) noch nicht gewesen, aber klar, die Band ist auch mir ein Begriff. Da haben es heutige Band leichter. Einmal ne Handyaufnahme und alles klingt schon besser ....Trotzdem ist das Musikbusiness, egal welches, noch immer recht schwer. LG Uli
    Guggenheim Bilbao
    Guggenheim Bilbao
    Grabinu
  • Ca 500000 m 25/06/2021 12:50

    Den Teil der Stonestory kannte ich noch nicht dazu erstam großes Danke dir herzlichst Dieter, ja da muß man als Stones-Fan tapfer sein wenn man das hört.Die Treppe da runter scheint gesperrt (hoffentlich).
    little bit of Meckerei die schwarzen Vignetteflecken in den Ecken passen irgendwie nicht so darein, oval richtung Tür oder besser keine

    und ich verlink jetzt mal nix von Stones in Müngersdorfer Stadion 82,
    das zieh ich mir heute Abend bei der Heimfahrt rein :-)
    VG
    Heino
    • wagner-wiewerwas 26/06/2021 12:17

      Danke, Heino. Auch für das "little bit of Meckerei" by a colleague...
      Dafür bin ich immer empfänglich. - Etwas weniger Vignettenschwarz in den Ecken... wär schon besser, da haste recht.
      Herzlich
      Dieter