Eine zweite Welt

Eine zweite Welt

Zahnstocher in der Zitrone zum Tee,
die diensthabende Nonne trägt beim Frühstück eine weiße Schürze,
die Glastür vom hölzernen Schlüsselkasten neben dem Eingang klemmt,
sie setzen eine alleinstehende Dame mit Brillen aus den 70er-Jahren an meinen Tisch,
im Hof verwandeln sich gelbe Blumen neben stapelbaren Plastiksesseln zu Stroh,
progetto moses, Hochwasserschutz für Venedig – ein Wortschwall von der anderen Seite des Tisches ergießt sich ungebremst auf mich,
nach 20 Uhr werden Herren- und Frauentrakt mit einer Schiebetür getrennt,
Venedig geht noch immer in acqua alta unter, in den verblichenen Vorhängen sind bläßliche Blümchen zu erkennen,
neben den Schlüsselkasten ist eine Klingel um eine Schwester zu rufen, sie sperrt das Eingangstor auf, notiert etwas in ein Heftchen und läßt den Gast hinausgehen,
räuspern, ein letzter Schluck Tee, meine Stimme ist noch dünn und brüchig,
Studenten eilen den fondamento vor dem Tor entlang,
auf den steinernen Platten finde ich das Jahr 2003 wieder.

Venedig, Dorsoduro, Oktober 2003