Eine Taube macht noch keinen Sommer

Eine Taube macht noch keinen Sommer

Es war einer dieser heißen Tage, der sich auf alles Lebendige stürzte, um
die große Lähmung herbeizuführen. Wer sich ausserhalb seiner Wohnung
aufhielt, mußte lebensmüde oder berufstätig sein. Bedauernswerte Men-
schen halt. Die freilebenden Tiere zogen sich in kühle Erdlöcher oder in
einen kühlenden Wald zurück. Es herrschte lähmende Stille überall. Nein,
nicht überall. Die Taube stand vor dem großen Baum, der sich ebenfalls von
dieser Hitze betäubt fühlte. Sie hob den Kopf und sprach zum Baum „Ob-
wohl ich nur eine Taube bin, wette ich mir Dir, dass ich so groß bin, dass ich
Dich um einen Kopf überrage.“ Der große Baum blickte mürrich auf die Tau-
be, die ihn beim Schlummern gestört hatte. Ärgerlich warf er einen toten Ast
nach ihr. Nicht um sie zu treffen, sondern nur zur Warnung, es nicht zu über-
treiben. Die Taube: „Also ... wetten?!“ Der Baum dachte nach. Er kannte kei-
ne Tauben und hatte noch nie etwas von ihnen gehört. Er stand von Kindes-
beinen an in einem Garten, von hohen Häusern umgeben und hatte nie die
Baumschule besucht. Er war sozusagen unwissend. Er wußte aber, dass er
groß war, sehr groß und die Taube, auf die er nun hinunterblickte, war klein,
sehr klein. „Gut“, sagte der Baum, „die Wette gilt“. Natürlich wetten Tiere und
Bäume nicht um Dinge, wie wir Menschen. Es geht ihnen nur um Anerkenn-
ung. Daher ging keiner ein großes Risiko ein. Schlimmstenfalls wurde man
Teil eines Spottliedes oder Spottgedichtes. Als die Wette beschlossen war,
flog die Taube auf den höchsten Ast des Baumes und fand einen geeigneten
Zweig dicht unter der Baumkrone, auf den sie sich niederlassen konnte und
tatsächlich den Baum um einen Kopf überragte, wie mein Foto beweist.