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Die Yoga-Stunde

Die Yoga-Stunde

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Oliver Schiebek


Premium (World), Düsseldorf

Die Yoga-Stunde

„Du bist doch Yoga-Lehrer, stimmt´s? Ich würde gerne eine Stunde bei dir buchen“, sagte das Küken.
„Ja ich habe Hatha-Yoga in einem indischen Ashram gelernt. Wann soll es denn losgehen?“
„Wenn´s geht sofort!“, sagte das Gänslein ehrgeizig.
„Dann starten wir am besten mit einem Sonnengruß“, schlug ich vor.
„Nein, das ist mir zu einfach. Ich hab´ schon Yoga-Erfahrung, weißt du?!“ Das Küken suchte anscheinend eine Herausforderung.
„Ok, dann machen wir eine Übung, die ich den Bürzel-Knoten nenne. Nimm´ deinen Fuß und halte ihn mit gespreizten Schwimmhäuten unter den Schnabel!“
„So in etwa?“ Das Küken folgte der Anweisung mit einer geschmeidigen Bewegung.
„Ganz genau - und nun bewege deinen Bürzel vorsichtig hinter den Kopf!“
Dies fiel dem Küken schon deutlich schwerer, aber es verknotete sich trotzdem mit elfenhafter Eleganz. „Wie geht es nun weiter?“, wollte es wissen.
„Jetzt hältst du das Ganze für etwa fünf Minuten, das dehnt den ganzen Körper. Ich muss nur kurz telefonieren und komme gleich wieder.“
Leider dauerte das Telefonat etwas länger und nach etwas mehr als fünfzehn Minuten schaute ich nach der kleinen Gans. „Du bist ja immer noch im Bürzel-Knoten, was ist los?“, stellte ich überrascht fest.
„Er klemmt!“, ächzte das Küken.
„Was klemmt?“
„Mein Bürzel. Ich bekomme ihn nicht mehr hinter dem Kopf hervor und in meiner Schwimmhaut habe ich einen Krampf!“
"Dort kann man einen Krampf haben? Interessant!" Ich machte mir Notizen für zukünftige Kunden.
„Bist wohl doch kein Yoga-Profi, was?“, sagte ich mit leichter Häme.
„Stimmt, ich habe gelogen. Aber hilf mir bitte hier raus, ich will um siebzehn Uhr noch zum Karate.“
„Darauf solltest du heute vielleicht besser verzichten. Ich mach´ dir jetzt erstmal ein warmes Lavendelbad, das sollte deine Muskulatur entspannen.“
Vorsichtig trug ich das Küken zur Wanne.
„Ist das dein Quietsche-Entchen am Wannenrand?“, wollte es wissen.
„Ja, warum fragst du?“
„Bist du nicht zu alt dafür?“
„Ich habe gerne Gesellschaft beim Baden und außerdem – wenn du willst, dass ich dir helfe, sei ein bisschen netter.“
Und so plantschten wir drei vergnügt- das Gänslein, mein Quietsche-Entchen und ich – bis sich der Bürzel wieder löste. Aber zur Yoga-Stunde habe ich die kleine Gans nie wieder gesehen.

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