Die Christkindlüge

Es waren herrliche Weihnachtsfeste damals, als ich noch ans Christkind glaubte. Nicht, dass ich das Fest heute nicht mehr mag, aber das Besondere zerbrach in einem einzigen Augenblick.

Gezweifelt hatte ich schon vorher, aber nur wenn die Stimmen der Kinder aus der Nachbarschaft gar zu eindringlich wurden. Ansonsten legte ich brav meinen Wunschzettel auf die Fensterbank, streute auch ein wenig Zucker dazu,
denn ich wünschte mir doch zuweilen ein Geschwisterchen.

An Heiligabend war dann das Wohnzimmer verschlossen, und die geheimnisvollen Geräusche konnten nur von den Engeln rühren, die auch immer so fleißig backten, wie meine Mutter mir versicherte, wenn der Himmel am Abend rosa leuchtete. Wenn sich die Tür zum Weihnachtszimmer endlich öffnete, sah ich zuerst den Baum, der übersät war mit Wunderkerzen, deren tanzende Sternchen sich im Lamettaglanz ins Unendliche vermehrten. Im sanften Licht der Wachskerzen erschien der Raum wie der Himmel selbst, und ich war selten unzufrieden mit dem, was das Christkind mir gebracht hatte. Einmal gefiel mir aber eine Puppe nicht wie erwartet, obwohl sie wunderschöne, dunkle Locken aus echtem Haar hatte. Irgendetwas in ihrem Blick schien mir zu sagen, dass sie mich nicht brauche. Da aber alle Welt so begeistert von dem Neuzugang in meinem Puppenreich war, nahm ich die Neuerwerbung eines Tages mit in den Kindergarten, um sie den anderen Kindern zu zeigen.

Nachdem die Puppe gebührend bewundert worden war, setzte ich sie auf einen Stuhl und gab mich dem Spiel hin, ohne weiter auf das gute Stück zu achten. Sie brauchte mich ja schließlich nicht. Es kam, wie es kommen musste. Jemand stieß gegen den Stuhl, die Puppe fiel auf den Boden, der Kopf zerbrach. Meine Mutter war erschütterter als ich, doch ich hatte einen Trost für sie zur Hand:
„ Ist doch nicht so schlimm! Die ist doch vom Christkind! Stell dir vor, du hättest sie bezahlen müssen!!

Das folgende Weihnachtsfest muss das letzte gewesen sein, das ich als überzeugter Christkindgläubiger feiern durfte. Ich erinnere mich noch gut, dass ich im Spätherbst mit meiner Mutter darüber sprach, dass meine Puppe Gabi ein Problem mit dem Arm hätte. In der Stadt hatte ich einen Puppendoktor gesehen, zu dem ich sie augenblicklich bringen wollte. Aber meine Mutter meinte, ich solle die Patientin getrost am Abend auf die Fensterbank legen. Die Engelchen würden sie gewiss holen und bis zum Weihnachtsfest gesundpflegen. Damit war ich einverstanden, und tatsächlich war die Puppe am nächsten Morgen verschwunden.

Die Zeit verging, und ich dachte nicht mehr an Gabi. Eines Tages schickte mich meine Mutter ins Wohnzimmer, um aus dem Schrank etwas zu holen, und zwar aus dem rechten Schrankfach. Warum ich das falsche Rechts öffnete, weiß der Himmel. Jedenfalls fiel mir aus dem linken Schrankfach meine im himmlischen Puppenkrankenhaus gewähnte Gabi entgegen.

Es gibt Augenblicke im Leben eines Menschen, die man nie vergisst. Dieser gehört dazu. Mit einem Schlag wusste ich die ganze Wahrheit, ohne dass ich auch nur ein Wort darüber verlieren musste. Unwiederbringlich waren die Tage der glückseligen Kinderweihnacht verloren. Es war wie ein Abschied von einem schönen Traum, der vor den Augen wie eine Seifenblase zerplatzt, und alles Schillernde und Magische weicht der nüchternen Realität.

Vielleicht ist es vergleichbar mit der Erkenntnis, dass die große Liebe des Lebens auch nur mit Wasser kocht.

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Dazu noch ein Kinderbild von mir etwa aus der fraglichen Zeit, allerdings mit einer anderen Puppe:

Liebe ...
Liebe ...
Mona Lisa

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Ich „klebe“ das Bild nun in das Foto-Geschichten-Buch
Mona Lisas Foto-Geschichten-Buch
Mona Lisas Foto-Geschichten-Buch
MONA LISA .

Wer sich dazu äußern möchte, kann das gerne hier (oder auch dort unter dem Bild) tun.
Vielen Dank für das Interesse!
:-)

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