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brunnenweisheit

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brunnenweisheit

Koblenz 2007

LEHRER: Das ist der Kern, du mußt in den Brunnen springen.
SCHÜLER: Aber wo gibt es den Brunnen, in den ich springen könnte?
LEHRER: Weitab und doch nahe. "Sie gingen lange, und noch am selben Tag kamen sie an", heißt es. Je weiter du in die Welt ausschweifst, umso entfernter bist du ihm. Suchst du bei dir, schaust du über seinen Rand.
SCHÜLER: Dann ist der Brunnen in mir?
LEHRER: Deine eigene Tiefe!
SCHÜLER: Aber warum dann Angst haben. Was in mir ist, muß ich doch nicht fürchten?
LEHRER: Nichts ist den Menschen unbekannter und erschreckender als die eigene Seele. Die meisten Menschen haben Todesängste, in das Brunnenloch zu steigen und den Abstieg zum unbekannten Seelengrund zu wagen. Sie leben nur außen, von allem gefesselt, was zur Schau gestellt wird, aber sie werden schon verwirrt, wenn sie nur einen Blick über den Brunnenrand werfen sollen. Ihre Sicherheit liegt im Geläufigen der äußeren Welt; vor der Tiefe in sich selbst sind sie in hilfloser Not. Aber der Brunnen ist noch nicht verschüttet. Wer ehrlich will, kann ihn finden und das Wagnis beginnen.

Hubertus Halbfaß, Der Sprung in den Brunnen

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