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Death has many faces

Death has many faces

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Glen Silver


Free Account, Berlin

Death has many faces

Never forget: All this can happen to everybody.

A story on this picture. Facts found out by Arturo Benedetto.


Unerwartet/Unexpected

Sie war heute etwas früher aufgestanden, denn erstens hatte ihr Vater Geburtstag, zweitens kam ihr Freund zu Besuch und drittens musste sie deswegen zum Markt und all die Dinge einkaufen, die für ein großes Essen heute Abend benötigt werden.
Sie schaute durch ihr kleines Fenster nach draußen und sah die Sonne schon über dem Horizont, wie sie in ihrem leichten Orange die Bäume und Felder einfärbte, als wolle sie diese für den Tag schmücken. Ein Sonnentag wird es werden , das wussten alle in ihrer Familie. In dieser Jahreszeit schien die Sonne immer besonders freundlich, wärmte nur leicht die Haut der Menschen, die im Sommer so feucht glänzte.

Sie nahm ihre Kleidung und ging nach draußen. Außen am kleinen Haus der Eltern, versteckt hinter einer Bambuswand, fand sich die Waschgelegenheit für die gesamte Familie. Eine selbstgebaute Dusche, die ihr Wasser von einem Plastikfass bekam, was ihr zweitältester Bruder jeden Abend füllte. Jeder in dieser Familie wusste, was er am Tage zu tun hatte: die Männer die schwere Arbeit, die Frauen die leichte Arbeit auf dem Feld und in der Küche. Auch musste sie mit ihrer Schwester die Kleidung reinigen und sie flicken, wenn es nötig war.

Jetzt stand sie in einem Kittel aus weißer Baumwolle unter der Dusche. Den Kittel zog sie aus und legte ihn über die Bambuswand, über die sie nach draußen schauen konnte. Jeder wusste bei diesen Kleidersignalen: die Dusche ist besetzt. Auf der kleinen Bank neben der Dusche hatte sie ihre Kleider abgelegt und ihr Handtuch. Auch ihr Körperöl lag daneben und ihr Kamm, mit dem sie ihre Haare pflegte. Einen Fön für die Haare gab es nicht. Die mussten in der Sonne trocknen. Über der Bank hatte ihr Vater vor zwei Jahren einen Spiegel angebracht. Für euch Mädchen, hatte er gesagt, damit ihr immer sehen könnt, wie schön ihr seid. Sie wusste, dass sie schön ist mit ihren blauschwarzen Haaren und der leicht bräunlichen Haut. Sie hatte die Mandelaugen ihrer Mutter und ihre Zähne strahlten wie Perlen in ihrem Mund. Wann immer sie lächelte, durfte der sich glücklich schätzen, dem dieses Lächeln galt. Er durfte die Perlen des schönen Mundes sehen. Makellos waren die, täglich gepflegt mit einer speziellen Paste, die sie regelmäßig im Drugstore des Dorfes kaufte.

Das Wasser aus der Dusche rieselte sanft über ihren Rücken und ihre Gedanken wanderten schon den Weg voraus, den sie bald gehen würde. Es war ein Weg durch Sand und Palmenhaine, vorbei an Reisfeldern und kleinen Hütten. Wer sie beobachtet hätte, dem wäre klar geworden, wie viel Freude in ihr war. Singend wusch sie ihren Körper, verteilte den Schaum einer am Ort hergestellten Kokossalbe über ihren Körper, schob hier dicke Schaumflocken mit ihrem rechten Zeigefinger hin und dort. Der Strahl der Dusche wusch all diese weißen Flocken sanft ab. Zuletzt nahm sie ein Handtuch, dass sie vor nicht allzu langer Zeit von der Tante geschenkt bekommen hatte für hilfreiche Dienste. Die gelbe Farbe dieses Tuchs stand in hellem Kontrast zu ihrem vollmilchschokoladefarbigen Körper. Ihre strahlenden Augen sahen ihren Körper im Spiegel, schauten auf die jungen Brüste, die ihr kleiner Bruder immer Kokosschalen nannte, kleine Kokosschalen nannte er sie. Sie lächelte und ahnte, dass der kleine Bruder es noch nicht besser wusste. Heute Nachmittag würden sie ihres Vaters Geburtstag feiern mit all den Verwandten aus dem Dorfe. Und ihr Freund würde dabei sein, heute. Er hatte sich einen Tag frei genommen von seiner Arbeit in der nächsten großen Stadt, die dreißig Busminuten entfernt lag.

Nachdem sie ihre Haare getrocknet hatte, nahm sie ihr Butterfett, schmierte sich davon ein wenig in die Haare. Mit dem Kamm strich sie die Haare in den Nacken. Sie freute sich schon auf Timko, ihren Freund, weil sie wusste, dass er sie mag. Irgendwann würden sie heiraten.

Von der Bank nahm sie ihr Lederhalsband und legte es sich um. Schöne Steine schmückten ihren schlanken Hals. Und zu allem trug sie heute ihre rosafarbenes Spitzenkleid mit den schmalen Trägern. Die Wintersonne war stark genug. Frieren musste man nicht. Zuletzt zog sie ihre Ledersandalen an.

Als sie aus der Dusche trat, schien die Sonne schon durch die Palmenblätter. Sie ging in die Küche, aß ein Stück Papaya, eine Handvoll Reis und verließ das Haus. Vor ihr lagen 5 Kilometer Fußweg. Ihre Tasche war leicht, noch war sie leicht. Aber sie würde auch nicht viel schwerer werden. All die Gedanken an heute Nachmittag würden den Einkäufen das Gewicht rauben.

Unterwegs bemerkte sie eine leichte Bewegung der Erde. Das passierte in ihrer Gegend öfter, daraus musste man sich nichts machen. Sie summte vor sich hin und schritt zügig voran. Alle Menschen schienen nur in eine Richtung zu laufen. Nur Katzen und Hunde kamen ihr entgegen und liefen den Berg hinauf zu ihrem Dorf. Nach einer Wegbiegung konnte sie das Meer sehen. Es lag blau in der Sonne, seine Oberfläche bewegten kleine gekräuselte Wellen.

Diese hatte sie noch vor 6 Wochen mit ihrem Freund bewundert. Sie hatten am Strand gesessen, er hatte kleine Krebse gefangen und ihr in den Nacken gesetzt. Das hatte gekitzelt. Sie erschrak immer wieder durch diese krabbelnden Wesen. Er lachte laut sein heiseres Lachen, ein freundliches Lachen, das ihr zeigte, wie lieb er sie hat. Wenn er sie genug geärgert hatte, küsste er immer ihre schwarzen Haare und das Lederhalsband. Die schönen Steine daran hatte er selbst gesammelt und dann mit einem Bohrer ein Loch hineingebohrt. Von seinem Bruder wurde ihm das Band aus der großen Stadt mitgebracht. Für deine kleine Freundin, hatte sein Bruder gesagt. Sie streichelte das Band und die Steine, als sie auf die Wellen sah, Wellen der Erinnerung und Vorfreude. Sie würde morgen wieder mit ihm an den Strand gehen, weil er über Nacht bleiben könnte. Sie war unruhig in ihrer Seele und spürte ihren Herzschlag unter ihrem schönen Kleid.

Zu Hause war ihre kleinere Schwester beim Herstellen der Reiskuchen, die heute zur Feier des Tages mit Kokosflocken gebacken wurden. Dazu sollte es dann Melasse geben, eine dunkelbraune klebrige Flüssigkeit, die etwas weiter weg als hellgelber Saft aus großen Rohren gepresst wurde und erst durch das längere Kochen über Feuer seine dunkelbraune Farbe bekam und zäh wurde. Während die kleine Schwester die Reiskuchen backte, fegte der Vater mit ihren Brüdern den Hof. Hühner liefen ihnen vor die Füße und wurden mit großem Gejohle verscheucht. Hühner zu jagen, das liebten ihre Brüder. Und wenn es ganz wild zuging, liefen sie den Hühnern hinterher und warfen sich auf sie. Manchmal passierte es, dass ein Huhn dabei sein Leben verlor, wenn die Brüder nicht richtig aufpassten.

Bei ihrer Arbeit sang sie das Lied von den Fischern, die draußen auf dem Meer waren und die Fische fingen, welche dann am Hafen verkauft wurden um die Familienkasse so aufzufüllen, dass keiner Hunger leiden musste und das Benzin für das kleine Motorrad gekauft werden konnte. Die kleine Schwester hatte ein Glas auf den Tisch gestellt, das plötzlich zu Boden fiel, als der ein wenig wackelte. Sie hatte sich erschrocken. Zerbrochen war das Glas auf dem Lehmboden nicht.

Hunger!, hörte sie von draußen rufen, Hunger! Das war das Zeichen für sie. Aus der Vorratskammer holte sie einige Bananen und etwas Orangensaft. Den bekamen ihr Vater und ihre Brüder. Alles muss sauber sein, wenn deine Schwester wieder zurückkommt mit ihren Einkäufen. Alles muss sauber sein, lachten ihre Brüder und bewarfen sich mit Bananenschalen. Leena, ihre älteste Schwester, die hatte es gut, weil sie einkaufen durfte, wenn sie zu Hause in der Küche fleißig sein musste. Leena, ihre Schwester hatte einen Freund. Da sie schon zwanzig war, hatte der Vater nichts dagegen. Jeder wusste, dass Väter in ihrer Gegend froh waren, wenn ihre Töchter einen Freund hatten. Dann waren sie bald verschwunden, verheiratet und hatten für eine andere, die eigene Familie zu sorgen. Nur wenn zu Hause sehr viel Arbeit war zur Erntezeit, dann kamen die verheirateten Schwestern nach Hause zu ihren Eltern und halfen. Beim letzten Besuch im Dorf hatte die Mutter der großen Schwester Leena das Spitzenkleid gekauft. Mütter wissen, was junge Männer wünschen und wie sie ihre Töchter noch schöner machen können.

Leena war unterdessen schon fast am Ziel. Noch musste sie zwei Kilometer am Strand entlang laufen, durfte den trockenen Sand zwischen ihren Zehen spüren, sich von der leichten Brise des Meereswindes umhüllen lassen. Die Sonne war in der Zwischenzeit etwas durch leichte Nebel verdeckt worden. In der Ferne sah sie die Wasseroberfläche in Bewegung. Wie immer, dachte sie, immer gegen Mittag wird das Meer unruhig. Ihr Vater hatte ihr als kleines Mädchen von den Fischen erzählt, die sich mittags immer an der Wasseroberfläche trafen um zu tanzen. So wird es heute wieder sein, dachte sie. Partyzeit für Fische. Das musste sein. Sie wusste genau, wie viel Spaß es machte zu tanzen, zu den lauten Klängen der Schlag- und Zupfinstrumente. Sie setzte sich einen Moment in den Sand und schaute verblüfft, wie der Strand immer breiter wurde. In kleinen Wasserpfützen spiegelte sich die Sonne und in manchen krabbelten kleine Krebse um Muscheln. Das Meer im Hintergrund wurde weißer und zog sich immer mehr zurück. Diese Art Fischtanz kannte sie nicht. Sie dachte an ihren Freund, der bald kommen würde und an ihre Einkäufe, legte sich mit der linken Hand ihre schwarzen Locken hinters Ohr. Sie hörte die Stimmen nicht, die sie riefen, so versunken war sie in ihre Gedanken an die tanzenden Fische, ihren Freund und das Fest am Nachmittag. Als sie hochblickte, stand fünfzig Meter von ihr entfernt eine fünf bis sechs Meter hohe Wasserwand.

Die Kunde von den hohen Wellen hatte ihr Dorf schnell erreicht. Erschrocken machten sich der Vater und die Brüder auf die Suche. Auf dem Weg von ihrer Anhöhe mussten sie bald Halt machen. Das Wasser stand mehrere Meter über dem Land und verdeckte fast die Blätter der Palmen. Der Vater schaute seine Söhne ängstlich an und diese ihren Vater. Was wird mit Leena passiert sein?, fragten sie sich unruhig. Die Brüder wären am liebsten los gerannt. Der Vater hielt sie zurück, obwohl auch er voller Angst um seine Tochter war. Sie gingen ein Stück durch das Wasser, so weit, bis sie den Strand hätten sehen können. Der war im Wasser verschwunden. Auf dem Wasser schwamm etwas, das sie nicht erkennen konnten. Das wird nicht Leena sein, sagten sie, die kann schwimmen. Das da schwimmt nicht, das ist ein Stück Holz oder eine alte Bierkiste.

Sie warteten bis drei Uhr nachmittags. So lange brauchte das Wasser um wieder zurückzufließen. Vergessen war die Geburtstagsfeier, vergessen der Besuch von Leenas Freund. Langsam gingen sie in die Richtung des Dorfes. Unterwegs sahen sie von weitem das Spitzenkleid ihrer Schwester. Sie rannten zu dem farbigen Fleck, bis sie auch die dunkle Haut und die schwarzen Haare von Leena erkennen konnte. Leena lag in einer Pfütze vor einem Gebüsch. Die Brüder riefen laut ihren Namen. Leena reagierte nicht. Der Vater flüsterte: Tochter, wach auf, schlaf nicht! Als sie vor ihr standen, ihr die Hand streichelten, ihr ins Gesicht schauten, bemerkten sie Leenas leicht geöffnete Augen. Es waren leere Augen. Um ihren Hals hing das Lederband mit den Steinen. Aus Nase und Mund kam leichter weißer Schaum. Leena sprach nicht mehr. Ihre Einkaufstasche war leer.

Die Welle hatte sie bei ihren Gedanken an die tanzenden Fische und ihren Freund davon getragen. Niemand wusste, wie die Welle das junge Mädchen ergriffen hatte. Leena war nicht verletzt, so schien es. Sie war ertrunken, staunend ertrunken. Ihr Mund sah aus, als hätte er noch fragen können: Warum? Niemand wird ihr eine Antwort gegeben haben. Auch die Menschen, die sie gerufen hatten nicht. Die mussten weggelaufen sein, waren jedoch nicht weit gekommen. Als der Vater und die Brüder sich umschauten, sahen sie noch mehr Menschen dort liegen. Manche von denen, die gerufen hatten, Leena gewarnt hatten, fand man nie. Das Meer hatte sie verschlungen mit all ihren Hoffnungen.

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