Twin O Caulin


Premium (Pro), Köln

Flame

Als ich auslöste, bemerkte ich, dass links neben mir jemand höflich wartete, um nicht ins Bild zu laufen. Es war eine ältere Dame, beladen mit zwei vollen Stofftaschen. Ich bedankte mich bei ihr, doch sie wich nicht von der Stelle.
"Was ist denn da Interessantes zu sehen?", fragte sie und blickte skeptisch auf das Motiv, das ich ins Visier genommen hatte: ein verhangenes Schaufenster und einen schmalen Spalt, durch den man in das benachbarte Treppenhaus sehen konnte.
"Naja", sagte ich, "hier sind ein paar schöne Strukturen, die finde ich interessant."
Mir war klar, dass sie mich nun als seltsamen Zeitgenossen ansehen würde - oder vielleicht sogar als jemand, der nicht frei herumlaufen sollte. Ein Motiv gab es ja eigentlich nicht, aber wie soll man mit jemandem in aller Schnelle mal eben über Motive reden.
"Und für so etwas kommen Sie her?", fragte sie. "So etwas fotografieren Sie?"
Sie schaute auf die Kamera, so, als würde sie gerne das Resultat sehen.
Kurzentschlossen drehte ich ihr das Display zu und unterdrückte dabei das Bedürfnis, ihr mitzuteilen, dass ich es interessant fand, wie die Flammen-Maserung des Holzes sich in der Unschärfe des Korridorverlaufs auf dem Bild wiederholte.
Stattdessen sagte ich, ein bisschen selbstironisch und weil ich vor Kurzem einen Artikel über die heute prekären Arbeitsverhältnisse von Fotografen gelesen hatte, dass man mit so etwas natürlich kein Geld verdienen könne.
Sie schaute zwei, drei Sekunden regungslos auf den kleinen Bildschirm.
"Wissen Sie", sagte sie mit einem schwierig zu deutenden Lächeln, das einen einzelnen Zahn in ihrem Mund entblößte, "ich konnte sehr wohl mal davon leben, sogar sehr gut. Ich war früher Fotografin. In München. Und dann ist mir mein gesamtes Fotostudio abhanden gekommen. Dreihunderttausend Mark. Alles weg."
Jetzt sah ich Bitternis in ihrem Lächeln.
Ich sagte irgendetwas Blödes mit "schrecklich" oder so, was man eben so sagt, wenn man unvermittelt von einem Schicksalsschlag eines fremden Menschen hört.
"Machen Sie es gut", sagte sie, durchkreuzte die Linie zwischen mir und dem Motiv und zog mit ihren schweren Taschen weiter.

Comments 10

  • w.marin 13/01/2020 16:04

    ich finde das foto toll und genauso auch, wie du hier bild und erzählung verbindest. welcher formenkontrast!  das bild abstrakt und die erzählung eine wunderbare kurzgeschichte über die sozialen verwerfungen an den rändern. diese flamme ist wohl schon länger erloschen.
    ich finde foto & erzählung an/rührend.
    mit ergriffenem gruß
    werner
  • Matteo70 12/01/2020 18:42

    eine Geschichte mit einer dennoch faszinierenden, gar verblüffenden Wendung...Du warst Deiner Reaktion nach auch nicht darauf vorbereitet..Eine tolle Geschichte zum Bild....Die Strukturen die du beschreibst sind auch faszinierend, so wie du sie fotografiert hast. Übrigens, "Fotografieren können, heißt auch "Sehen" können, meine Motive entdecken, das machst du großartig! LG, Matteo70
  • Lumiguel56 12/01/2020 13:45

    Was für eine Geschichte! Ihre Skepsis zur Wahl Deines Fotomotivs ist nachvollziehbar. Ich bin sicher, sie hat damals ihr Geld nicht mit Bildern von Türöffnungen und Korridoren verdient.
    Wer mit welcher Art von Fotografie heutzutage noch Geld verdient, das frage ich mich auch. Vermutlich gibt es nur ganz wenige, die gut davon leben können. Ich bin froh, nicht einer derjenigen zu sein, der darauf angewiesen ist, mit seiner Fotografie erfolgreich zu sein, Auftragsarbeiten auszuführen oder die Bilder bei einer Agentur zu vermarkten.
  • jeverman 12/01/2020 10:25

    Klasse Story gegen das Schubladendenken!!
    Bild sowieso ;-)

    LG Andreas
  • Franz Schmied 11/01/2020 23:16

    eine interessante Geschichte
    und erst durch sie wird das
    Bild auch interessant !!!

    ;-) frz
  • Njikoha 11/01/2020 22:39

    Deine Erfahrung hier zeigt, dass wir Fotografen sehr viel mehr "auslösen" als nur die Kamera - Achtsamkeit! Und mit diesem Bild gibst Du der Wirklichkeit den Moment und Raum um sich zu entfalten! Vielen Dank für's Teilen! LG Njikoha
    • Twin O Caulin 13/01/2020 8:35

      Danke für deinen Hinweis, Njikoha. Ich erkenne mehr und mehr, dass Fotografieren eine wunderbare Methode ist, Achtsamkeit zu praktizieren. Das Nicht-Offensichtliche einer Sache oder einer Situation zu erfassen, das möchte ich üben. VG Twin
  • w.marin 11/01/2020 22:36

    true colours/true stories. was für eine schöne/foto/ geschichte!
    cari saluti w.marin
  • Frank Oliver Barth 11/01/2020 22:33

    Danke für die Geschichte zu diesem beeindruckenden Kunstwerk. Zufälle gibt es ...
    VLG Frank