• E. W. R. 05/06/2018 16:16

    Danke für die ausführlichen Überlegungen! Ich antworte in den nächsten Tagen. E.
  • E. W. R. 07/06/2018 9:16

    „Ein lieber FC Freund beschreibt es so: "Franz Kafka, surrealistische Sprachmagie in stilistisch cooler Verpackung." (Ernst Lipps)

    ... sprich, Kafka ist schon 'ne Nummer für sich. Er mochte mit seinem Text, seiner Parabel, die er selbst nicht als Parabel, sondern als Legende bezeichete, die allgemeine Ungerechtigkeit und Rechtsbeugung im Fokus gehabt haben. Ich meine jedoch es war mehr als nur das!

    So schaue ich auf dein Foto und frage mich:
    Kann man Einlass ist das Gesetz finden, wenn der Schatten, den man selbst wirft, es verhindert? Gibt man sich nicht viel zu schnell mit einer Antwort zufrieden? Sollte man nicht, um Einlass in das Gesetz zu finden zunächst die richtigen Fragen stellen, die Antworten nicht in irgendeinem Gebäude, einem Konstrukt aus Wahrheit und Lügen, suchen, sondern in sich selbst?

    Gesetze, politische Gebilde, egal welche, werden irgendwie immer als übergeortnete Systeme wahrgenommen, die unbedingt vor uns Menschen dagewesen sein müssen.“


    Lieber Peter, die Wahrnehmung, dass Gesetze übergeordnete Systeme seien, die unbedingt vor uns Menschen dagewesen sein müssen, scheint mir nicht den Tatsachen zu entsprechen, zumindest nicht in den postaufgeklärten Demokratien westlicher Prägung. Wie es damit im asiatischen Raum steht, weiß ich nicht. Aber zumindest hierzulande ist ein Gesetz etwas, was reformiert werden kann, bei Bedarf reformiert werden muss und auch reformiert wird. Das galt allerdings auch bereits im 19. Jahrhundert in durchaus undemokratischen Staaten, etwa in Bezug auf die jüdische Emanzipation. Hier war, wenn ich es richtig sehe, das öffentliche Gesetz der Haltung der Leute selbst durchaus voraus, will sagen, der Staat, geleitet von klugen Leuten, war jedenfalls fortschrittlicher als viele Bürger.


    „Wie sich Systeme entwickeln und sich dann selbst, durch jeden einzelnen von uns, am Leben erhalten, beschreibt m.E. "Das Schloß" noch besser als "Der Prozess: Wir finden keinen Einlass, weil wir uns gegenseitig den Zutritt verwehren! Kafkas Figuren buckeln allein vor der bestehenden Möglichkeit, sie wählen die Kette, weil sie sich vor der Wahrheit fürchten.“

    Das würde, meine oben begonnene Argumentation fortsetzend, besagen, dass das Eine das Gesetz ist, das Andere aber die unterschiedliche und oft fehlende Bereitschaft, dem anderen den Eingang in dieses Gesetz zu ermöglichen. Und wenn es nicht die Judenemanzipation sein soll, was bei Kafka freilich naheliegt, dann kann als Beispiel das Verhältnis der „weißen“ zur „schwarzen“ Bevölkerung der USA dienen.


    „Doch wie kann man die Wahrheit irgendwo finden, wenn man nicht selbst Teil dieser Wahrheit ist, sich nicht selbst als Teil z.B. des Gesetzes erkennen kann? Im "Das Dritte Oktavheft" von Kafka ist folgender Satz zu lesen: "Nicht jeder kann die Wahrheit sehen, aber jeder kann die Wahrheit sein." ... z.B. die Wahrheit darüber, dass wir es sind, die anderen Menschen Macht über uns verleihen? Dann schreibt Kafka in "Die Zürauer Aphorismen", 1931 von Max Brod unter dem Titel "Betrachtungen über Sünde, Hoffnung, Leid und den wahren Weg" veröffentlicht, folgenden Satz: "Wahrheit ist unteilbar, kann sich also selbst nicht erkennen; wer sie erkennen will, muß Lüge sein." Was könnte Kafka damit meinen? Ist es tatsächlich nur eine seiner "Wortverdrehungen"? Wahrheit ist selten das, was uns als Wahrheit verkauft wird. Man muss sie in Frage stellen, muss sich selbst als Rad im Getriebe erkennen, muss erkennen, dass die Wahrheit, die mir Wahrheit scheint nicht in mir zu finden ist. Somit werde ich zu ihrer Lüge. Kafkas Betrachtungen über Wahrheit und Lüge ziehen sich wie ein roter Faden durch seine Schriften: "Alles, selbst die Lüge, dient der Wahrheit; Schatten löschen die Sonne nicht aus." So würde ich hinter der Legende "Vor dem Gesetz" zunächst Fragen suchen. Fragen, die mich selbst beträfen. Bin ich Wahrheit oder bin ich Lüge? Bin ich gar das Gesetz, welches sich vor mir zu verschließen droht? Kann ich die Wahrheit erkennen, will ich sie überhaupt erkennen? etc. pp.“

    Über Wahrheit und Lüge hatten wir uns ja bereits ausgetauscht. Die Frage in Bezug auf die oben begonnene Argumentation wäre, ob Menschen, die zu begrenzt sind, um elementare Tatsachen zu erkennen, oder denen man durch "Bewusstseinsbewirtschaftung" den unverstellten Blick auf die Realitäten ausgetrieben hat, fähig sind, die Wahrheit zu erkennen. Nun gibt es aber einfachere Wahrheiten und schwerere Wahrheiten, nicht nur „die Wahrheit“. Um zu erkennen, dass Vorurteile gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen aufgrund ihres Glaubens oder ihrer äußerlichen Merkmale unberechtigt sind, bedarf es vielleicht keiner allzugroßen Einsicht, was ja im Umkehrschluss nur bedeuten kann, dass Millionen von Leuten in gewissen Zeiten die Einsicht gefehlt hat und fehlt. Oder dass sie es zwar wissen, aber die Unwahrheit mehr schätzen. Dass man aber etwa Einstein oder Hawking bei ihren Überlegungen nicht folgen kann, ist nicht ehrenrührig, und hier geht es auch nicht um die Lüge.


    „Der Mann vom Lande, der um Einlass in das Gesetz bittet und sein Leben an eine Vorstellung, an eine ihm unbekannte Wahrheit verliert, genau dieser Mann ist die Wahrheit und gleichzeitig auch ihre Lüge. Diese Tür war nur ihm bestimmt, weil er es so gewählt hatte. Warum wirken die Gebäude, die Kafka mit seinen Worten errichtet, die dann visualisiert wie Betonfestungen erscheinen, so bedrohlich? Vielleicht, weil sie die Wahrheiten der großen Lügen beschreiben?“

    Hier kann ich Dir nicht mehr folgen, oder vielmehr Kafka. Die Wahrheit und die Lüge ist etwas außerhalb des Menschen, nämlich die Erkenntnis der wahren Verhältnisse oder ihre bewusste Verleugnung. Also kann ein Mensch selbst nicht die Wahrheit oder die Lüge sein. Interessant ist tatsächlich, dass die Parabel in der Literatur wohl eher individualistisch interpretiert wird, weniger gesellschaftlich. Hier müssten vielleicht weitere Überlegungen ansetzen.
  • † dannpet 07/06/2018 17:36

    .
    In den postaufgeklärten Demokratien westlicher Prägung sind die Menschen lange nicht so aufgeklärt, wie du es gerne annehmen möchtest.
    So waren am Zusammenbruch des Sozialismus (man bedenke die DDR war auch eine sogenannte Demokratie) nicht die Menschen schuld, sondern das System. - Wie bitte?
    Fragst du heute jemanden auf der Straße, wer an den Missständen in unserer jetzigen postaufgeklärten Demokratie Verantwortung trage, erhältst du zu fast 100% folgenede Antwort: "Das System!" - Wie bitte?
    Wie geht das, wenn das System nicht vor uns Menschen da war?
    Da frage ich mich schon und ich denke zurecht: Die Gesetze, die Systeme, wer macht und wer trägt sie denn, wenn nicht wir Menschen?
    So steht der "kleine Mann" denn da, zuckt mit den Schultern und meint: "Was soll ich denn machen? Die da oben haben es so beschlossen!"

    Und so geht der "kleine Mann" vollkommen auf in seiner Rolle als Knecht, er lebt und ermöglicht das System, ist der Vollstrecker der Gesetze von denen da oben, die sich irgendwie nicht genauer bezeichnen lassen.

    Natürlich können Gesetze reformiert werden, doch müsste ich dich fragen: Was verstehst du unter Reformen?

    Geht es in Kafkas Schriften um das Judentum?
    Kafka war ein gläubiger Mensch, der sich nach meinem Verständnis eher mit der Frage des Menschsein und den damit verbundenen Gesetzen beschäftigte, ich konnte seinen Schriften nicht entnehmen, dass er speziell die Juden als von einseitig menschgemachten Gesetzen ausgestoßen beschreibt. Auch wird in seiner Legende unter diesem, deinem Foto nicht erwähnt zu welchem Gesetz dem Manne Zugang verlangte.

    Antworten auf derartige Fragen kann man bei Kafka einfach nicht finden, was er beschreibt, es sind universelle Wahrheiten und/oder Lügen.

    Doch selbst, wenn wir bei der Nichtgleichstellung der Juden bleiben, die in Kafkas Schriften Ausdruck finden soll und die in unterscheidlichen Zeiten stets in unterschiedlicher Ausprägung existierte und noch heute existiert:
    Wenn ich Gleichberechtigung nicht nur als Lippenbekenntnis lebe, so bin ich Teil dieser Wahrheit, beschwöre ich jedoch die Gleichberechtigung und lebe weiter meine Vorurteile gegen andersdenkende, andersgläubige Bevölkerungen, so bin ich meiner Wahrheit Lüge.
    Das gilt für jede Bevölkerungsgruppe, ob nun auf der einen oder auf der anderen Seite.
    In Kafkas Werken kommt niemals das Wort "Jude" vor und doch wird er meist so interpretiert als würden seine individuellen Leiden die Leiden des gesamten Judentums sein. Die wohlstudierten Kritiker mögen mich geißeln, doch halte ich diese Annahme für schlichtweg falsch! Ich selbst denke als mein Selbst, nicht als mein Volk. Kafkas Geschichten sind auf die Deutschen, wie auf die deutschen Juden gleichermaßen zu übertragen.
    Grundsätzlich könnte wohl jede Epoche ihre Erfahrungen in Kafkas Werke hineininterpretieren, Erfahrungen von denen Kafka seiner Zeit nichts wusste, und könnte behaupten Kafka habe es kommen sehen, war seiner Zeit voraus. Ich sage er war ein einzigartiger Individualist, wie auch eine einsame, zerrissene Persönlichkeit, der sich und seine Zeit in seinen Schriften reflektierte.

    Dann zu deiner Aussage Wahrheit und Lüge lägen außerhalb des Menschen: Glaubst du wirklich sie wären nicht in uns? Dann sind wir wieder am Ausgangspunkt angekommen und es muss stimmen:
    Die Gesetze, Systeme, politischen Konstrukte waren vor uns Menschen da. Wir können sie nicht erkennen, weil sie nicht in uns sind. Auch wären wir nicht mehr Teil von Naturgesetzen.

    Die Erkenntnis über die wahren Verhältnisse kann es aber nach meiner persönlichen Überzeugung nur geben, wenn ich sie in mir selber finden kann. Ich kann das Äußere nur über das Innere erfassen oder ich muss mich selbst verleumden.

    Wenn du mir nicht folgen kannst, so liegt das möglicherweise auch daran, dass Worte den Sinn der Gedanken verändern, sie können das Innere nicht zu 100% wiedergeben. Wahrheiten und Lügen haben, wie ich bereits schrieb, einen universellen Charakter, versuche ich sie von Innen heraus zu beschreiben, sie in konkrete Beispiele zu pressen, so verlieren sie ihren universellen Charakter und bekommen einen persönlichen Anstrich.

    Genau hier liegt m.E. die Stärke Kafkas, selbst seine persönlichen Geschichten bleiben universell. Wenn du deine erlernte Logik mal beiseite lassen wolltest, dann könntest du ihn womöglich verstehen.


    Gruß Peter

    ---

    "Prüfe dich an der Menschheit. Den Zweifelnden macht sie zweifeln, den Glaubenden glauben."

    "Unsere Kunst ist ein von der Wahrheit Geblendet-Sein: Das Licht auf dem zurückweichenden Fratzengesicht ist wahr, sonst nichts."

    "Bei einem gewissen Stande der Selbsterkenntnis und bei sonstigen für die Beobachtung günstigen Begleitumständen wird es regelmäßig geschehen müssen, daß man sich abscheulich findet."

    Franz Kafka
    .
  • E. W. R. 07/06/2018 21:03

    Lieber Peter, ich denke wieder in Ruhe nach und antworte Dir dann. Dass man im intellektuellen Bereich die Dinge verschieden sieht, müssen wir nicht als Manko, sondern als Bereicherung und die Bedingung der Erkenntnis auffassen. HG, E.